33 Prozent der weiblichen und rund 40 Prozent der männlichen Beschäftigten können über ihre Arbeitszeiten zumindest in einem gewissen Rahmen selbst bestimmen. Häufig geben Gleitzeitsysteme oder Arbeitszeitkonten den verfügbaren Spielraum vor. Ein gutes Drittel der Beschäftigten mit flexibler Arbeitszeitregelung hat jedoch fast keine festen Vorgaben: Der Arbeitgeber erwartet ein bestimmtes Ergebnis; wann die Arbeit erledigt wird und wie lange diese dauert, ist aber weitgehend Sache der Beschäftigten. Das hat aus Arbeitnehmersicht Vorteile, kann aber auch zur Selbstausbeutung führen. Die Auflösung traditioneller „Kommandostrukturen“ zugunsten stärker eigenverantwortlicher Tätigkeit ginge in diesem Fall zulasten der Belegschaft.
Ob extrem flexible Arbeitszeiten dazu führen, dass Beschäftigte mehr arbeiten als unter „normalen“ Bedingungen, hat die Sozialwissenschaftlerin Vanita Irene Matta von der Universität Zürich mithilfe des Sozio-oekonomischen Panels, einer groß angelegten, regelmäßigen Befragung von mehr als 10.000 Haushalten, untersucht. Es zeigt sich zunächst, dass unter den Werktätigen mit „hochgradig selbstgesteuerten“ Zeiten sowohl überdurchschnittlich viele mit geringfügiger und unregelmäßiger Beschäftigung sind als auch solche, die auf sehr viele Wochenstunden kommen. Insgesamt stützen die Ergebnisse die Vermutung, dass Selbststeuerung häufig zu Überlastung führt:
- 53 Prozent der Männer mit hochgradig selbstgesteuerten Zeiten arbeiten mehr als 45 Stunden pro Woche, bei den Frauen etwa 20 Prozent. Die Vergleichswerte für Beschäftigte mit festen Arbeitszeiten liegen bei 19 beziehungsweise 5 Prozent.
- Unbezahlte und nicht durch Freizeit ausgeglichene Überstunden leisten 44 Prozent der Männer und 26 Prozent der Frauen. Mit fester Arbeitszeit sind es jeweils nur knapp 10 Prozent.
- Zumindest bei den betroffenen Männern weicht die tatsächliche Arbeitszeit häufig drastisch vom individuell gewünschten Pensum ab. 41 Prozent stecken jede Woche zehn Stunden mehr in den Job, als ihnen lieb ist. Bei festen Zeiten trifft dies nur auf 17 Prozent zu.
Diese Beobachtungen ergeben sich allerdings aus dem Vergleich unterschiedlicher Personen. Theoretisch könnte es sein, dass sich Beschäftigte mit flexiblen und festen Arbeitszeiten systematisch unterscheiden – durch andere Zeitbedürfnisse, familiäre Verpflichtungen, Berufe, Bildungsabschlüsse, Bezahlung und weitere Faktoren. Insofern lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob die größere berufliche Beanspruchung tatsächlich nur eine Folge des betrieblichen Arbeitszeitmodells ist. Um die Wirkung des Arbeitszeitmodells statistisch zu isolieren, hat die Wissenschaftlerin im nächsten Schritt nur diejenigen betrachtet, die im Laufe des Untersuchungszeitraums von 2003 bis 2011 das Arbeitszeitmodell gewechselt haben. So lässt sich feststellen, wie lange dieselben Personen unter verschiedenen Bedingungen im Schnitt gearbeitet haben. Zudem hat die Forscherin den Einfluss weiterer Einflussfaktoren, die das Ergebnis verzerren könnten, herausgerechnet. Am Ergebnis ändert sich dadurch jedoch wenig: Völlig flexibilisierte Arbeitszeiten führen zu Mehrarbeit.
Dies ist im Übrigen kein Phänomen, das sich auf Führungskräfte beschränkt, wie Matta nachweist. Zwar sind lange und weitgehend unregulierte Arbeitszeiten im Management besonders verbreitet, 57 Prozent der Beschäftigten mit hochgradig selbstgesteuerten Zeiten haben jedoch keinerlei Führungsverantwortung.
Und noch etwas anderes bestätigt die Untersuchung: Die Flexibilisierung führt vor allem dann zu einer Verlängerung der Arbeitszeiten, wenn im Betrieb kein Zeitrahmen vorgegeben ist, weniger „wenn sie regulativ eingebettet ist“. Das heißt: Arbeitszeitkonten können davor schützen, dass aus Selbststeuerung Selbstausbeutung wird.